Kapitel 29
Nat, 22. Juni 2009
Nach meiner Besprechung mit Marta wartet mein Dad auf mich. Er hat die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt und den Knoten der Seidenkrawatte weit vom Kragen weggezogen. Er hat gesagt, dass er nicht gut schläft, und nach dem langen Tag im Zeugenstand sieht er völlig erledigt aus. Die Haut um seine Augen scheint faltiger zu sein, und er hat fast keine Farbe mehr im Gesicht. Wahrscheinlich ist Hoffnungslosigkeit plus Angst die schlimmste Gefühlskombination, die man sich vorstellen kann, denke ich.
»Harter Nachmittag«, sage ich.
Er zuckt die Achseln. In letzter Zeit nimmt mein Dad oft einen völlig trüben, abwesenden Blick an.
»Morgen wird etwas zur Sprache kommen, Nat«, sagt er. Ich warte, aber er verstummt und runzelt nur die Stirn. »Ich kann noch nicht darüber reden. Tut mir leid.« Er steht nutzlos da, wohl wissend, dass er nicht den Freiraum hat, mehr zu sagen oder zu tun, aber irgendwie auch unfähig, diese Tatsache zu akzeptieren. Ich bin sicher, an diesem Punkt hängt sein Verstand seit Monaten fest, immer auf der Suche nach den Tasten, die die ganze Situation rückgängig machen.
»Brauchst du irgendwas, Dad? Irgendwas von zu Hause?«
Er nimmt sich einen Moment Zeit, um über meine Frage nachzudenken. »Ich hätte furchtbar gern eine andere Krawatte«, sagt er schließlich, als würde er um ein Eis bitten, um etwas, wonach er im hintersten Winkel seines Gehirns lechzt. »Ich trage schon seit drei Wochen dieselben zwei Krawatten. Würdest du für mich hinfahren? Bring doch bitte gleich vier oder fünf mit, Nat. Am liebsten hätte ich die violette, die mir deine Mom mal zu Weihnachten geschenkt hat.« Ich weiß noch, dass meine Mom meinte, das würde seinen üblichen Billigstil verfeinern.
Um meinem Vater in seiner prekären Lage ein wenig unter die Arme zu greifen, habe ich ihm von zu Hause öfter ein paar persönliche Dinge geholt, die er benötigt. Etwa einen Monat vor Beginn des Prozesses ist mein Vater für die Dauer der Verhandlungen in ein Hotel in die Innenstadt gezogen. Er wollte vor und nach den langen Tagen im Gericht keine Zeit mit Pendeln verlieren. Doch vor allen Dingen hatte er, glaube ich, die unangenehmen Pressetypen satt, die jedes Mal, wenn er kam oder ging, mit gezückten Kameras aus den Büschen sprangen.
Er wohnt jetzt im Miramar, das trotz des Namens keineswegs in Meeresnähe liegt und zu der Sorte Hotels zählt, die lieber ihr Schild und ihre Klientel ändern als zu renovieren. Das Mobiliar in der Lobby könnte, so wie es aussieht, schon dort gestanden haben, als George Washington hier übernachtete, und in zwei Ecken seines Zimmers hängt die Tapete herunter wie die Zunge eines sabbernden Hundes. Das alles scheint meinen Dad nicht zu stören. Er kommt sowieso nur zum Schlafen her, nachdem Stern und er sich auf den nächsten Tag vorbereitet haben. Dann und wann reißt er einen müden Witz darüber, dass er sich schon an kleinere Räumlichkeiten gewöhnt.
Im Grunde lebt er zurzeit nur in seinem Kopf, und sein Kopf wird fast ausschließlich von den Details des Prozesses in Beschlag genommen. Wenn er nicht im Gericht ist, beschäftigt er sich in Sterns Kanzlei mit juristischen und sachlichen Fragen. Das ist verwunderlich, weil er sich hinsichtlich des Prozessausgangs keinerlei Hoffnungen zu machen scheint, aber ich schätze, er kann nur so damit umgehen. Es wäre besser, wenn er ein paar Freunde hätte, die ihn ablenken könnten, aber mein Dad ist auffallend einsam. Angesichts der Anklage, vor allem da es sich um die zweite handelt, reißt sich niemand um ihn, zumal er nie ein besonders ausgeprägtes Sozialleben hatte. Meine Mom war ziemlich phobisch, wenn sie das Haus verlassen sollte, konnte es aber nicht ausstehen, wenn er mal allein ausging. Selbst seine früheren Kollegen melden sich kaum bei ihm. Er war am Gericht eine ziemlich abgehobene Gestalt, und George Mason, sein einziger wirklich guter Freund dort, ist wie ich ein Zeuge, der im Augenblick auf Distanz bleiben muss. Seine Affäre, über die ich mich vor Monaten noch so aufgeregt habe, wäre zurzeit wahrscheinlich gar nicht schlecht, und sei es nur, damit er mal mit jemandem essen oder ins Kino gehen kann. Aber er scheint an nichts anderem interessiert als an dem Fall und verbringt das bisschen freie Zeit, das er hat, lieber allein.
Er scheint nicht mal gern mit Anna und mir zusammen zu sein. Wir haben uns ein paarmal abends getroffen, aber es lief immer ziemlich steif ab. Obwohl er so große Stücke auf Anna hielt, als sie noch seine Referendarin war, redet er anscheinend in dieser schweren Zeit nicht gern, wenn sie dabei ist, und wir drei verfallen oft in Schweigen. Ab und an, wenn Anna Überstunden macht oder beruflich verreisen muss, esse ich auch mal mit ihm zu Abend, was erlaubt ist, solange wir nicht über den Fall sprechen. Er erinnert mich sehr an meinen alten Studienfreund Mike Pepi. Seine Frau hat ihn wegen ihres Chefs bei River National verlassen, und jetzt kennt er praktisch nur noch ein Thema: seine Scheidung. Mike kann eine halbe Stunde lang gegen LeeAnn und die Anwälte wettern und dann abrupt sagen: »Reden wir von was anderem«, um dann gleich die nächste Tirade loszulassen.
Mein Dad verhält sich ganz ähnlich. Wahrscheinlich würde er am liebsten haarklein alle vor Gericht gestellten Fragen und Antworten sezieren, aber da er mit mir wirklich nicht darüber sprechen darf, redet er viel über seine Gemütsverfassung. Wieder und wieder hat er gesagt, dass er die derzeitige Geschichte völlig anders erlebt als die vor rund zwanzig Jahren. Damals, so sagt er, konnte er das alles gar nicht glauben und wünschte sich ständig in sein altes Leben zurück. Jetzt macht er sich auf eine tektonische Verschiebung gefasst. Er spricht beiläufig davon, dass er ins Gefängnis kommt. Doch selbst wenn er freigesprochen wird, die DNS-Ergebnisse aus dem ersten Prozess werden an die Presse gegeben, sobald die Geschworenen ihr Urteil gefällt haben. Kenner der Materie mögen ja die Argumente begreifen, bei denen es um kontaminierte Proben oder die anderen Liebhaber des Opfers geht, doch diese Nuancen werden nicht in die Schlagzeilen kommen. Im Falle eines erneuten Freispruchs wird mein Dad von praktisch jedem gemieden werden, dem sein Name was sagt.
Jetzt, vor Martas Büro, umarme ich meinen Dad, wie jeden Abend, bevor ich gehe, und verspreche, ihm die Krawatten am nächsten Morgen zu bringen. Der kleine blaue Prius, den Anna sich vor einem Jahr gekauft hat, steht am Straßenrand.
»Macht es dir was aus, wenn wir noch schnell nach Nearing fahren?«, frage ich sie, nachdem ich ihr einen Kuss gegeben habe. »Er braucht ein paar Krawatten.«
Würde man eine Krawatte tragen wollen, die das Geschenk einer Frau war, die man getötet hat? Oder ist mein Vater böse und raffiniert genug, um vorauszusehen, dass ich mir genau diese Frage stellen werde? In dieser Art von Nebelkammer, in der die Fragen in alle Richtungen fliegen und ihre dünnen Kondensstreifen hinter sich herziehen, lebe ich seit Monaten. Während der letzten Stunde habe ich viel über Sterns Bemerkung nachgedacht, dass mein Vater in den Zeugenstand getreten ist, um mein Vertrauen in ihn zu bestärken. Ich weiß, mein Dad hat panische Angst, mich zu verlieren. Als Eltern waren er und meine Mom immer so begierig nach meiner Liebe, dass es für uns alle schon fast quälend war. Aber wenn mein Dad gerade jetzt die Verbindung zu mir verlöre, würde ihm das ein ganz ähnliches Ende bescheren wie seinem eigenen Vater, der allein irgendwo im Westen in einem von diesen Blechdosenwohnwagen starb.
»Wie war er?«, fragt Anna, nachdem wir schon eine Weile unterwegs sind. Sie hat sich an meine längeren Schweigephasen gewöhnt, vor allem nach einem Verhandlungstag.
»O Gott«, antworte ich und grüble einfach weiter vor mich hin, während wir uns durch den dichten Innenstadtverkehr Richtung Nearing Bridge schieben. Auf der Straße ist ein Fahrradbote auf einem Einrad und in einem Ganzkörperhasenkostüm unterwegs. Die langen Ohren wippen, während er in die Pedale tritt. Bei seinem Anblick ergibt die Vorstellung von der Welt als Bühne für mich absolut Sinn. »Hast du irgendwas gelesen?«, frage ich.
»Frain«, sagt sie. »Der hat schon was ins Internet gestellt.« Michael Frain schreibt unter dem Titel The Survivors Guide eine landesweite Kolumne mit kuriosen Kommentaren zu kulturellen und gesellschaftlichen Ereignissen. Er ist mit einer hier ansässigen Bundesrichterin verheiratet, und um nicht so viel reisen zu müssen, neigt er dazu, sich auf lokale Geschehnisse zu konzentrieren, die auch im übrigen Land Unterhaltungswert haben. Er hat schon so einiges über den Prozess meines Vaters geschrieben und glaubt anscheinend, dass mein Dad damals tatsächlich als Mörder ungestraft davongekommen ist. »Schlimm?«
»>Wie ein Bombenangriff auf ein wehrloses Dorf.<«
»So furchtbar fand ich es eigentlich nicht. Mein Dad hat auch ein paar Treffer landen können. Und Sandy hat irgendwas in der Hinterhand, worüber sie nicht reden wollen, ehe ich morgen noch mal in den Zeugenstand gehe.« Trotzdem hallt das Wort »Bombenangriff« nach. Ich lasse Revue passieren, was ich heute Nachmittag gehört habe. Von Minute zu Minute fand ich es schlimmer, mit ansehen zu müssen, wie auf ihn eingehackt wurde wie auf den an den Felsen gefesselten Prometheus. Aber nach dem Gespräch mit Sandy kommt es mir so vor, als hätte mein Dad einen extrem unruhigen Flug hinter sich gebracht, um dann doch irgendwie sicher zu landen, eher verängstigt als verletzt.
»Weißt du noch, ob meine Mutter an dem Abend den Wein getrunken hat?«, frage ich Anna, während ich mir die Aussage meines Vaters durch den Kopf gehen lasse. Ich habe schon längst gegen die Auflage verstoßen, nicht mit Anna über den Fall zu sprechen. Ich muss mit jemandem reden, und es ist so gut wie ausgeschlossen, dass auch sie in den Zeugenstand gerufen wird.
Zwei Tage nachdem Debby Diaz mit mir gesprochen hatte, machte sie Anna ausfindig, aber ich hatte sie vorgewarnt, und sie versteht sich weit besser auf dieses Spiel als ich. Sie ließ Diaz zu sich in die Kanzlei kommen, und einer der Seniorpartner war bei dem Gespräch als ihr Anwalt dabei. Als Diaz danach fragte, wer an dem Abend, bevor meine Mutter starb, was getan hatte, sagte Anna, sie wäre furchtbar nervös gewesen, weil sie das erste Mal als meine Freundin mit bei meinen Eltern war, und könne sich an nichts mehr richtig erinnern. Jedes Mal wenn sie eine Frage beantwortete, fügte sie hinzu: »Sicher bin ich mir da nicht«, und »Kann aber auch anders gewesen sein«, und »Genau kann ich das nicht mehr sagen.« Mitten in der Befragung gab Diaz einfach auf. Die Anklagevertretung setzte Annas Namen auf die Zeugenliste, wie überhaupt jede Person, mit der die Polizei im Zuge ihrer Ermittlungen gesprochen hatte, sogar den Betreiber der chemischen Reinigung, zu der mein Dad geht. Mit diesem alten Trick wollten sie verschleiern, wen sie tatsächlich aufrufen würden. Aufgrund dessen darf Anna nicht in den Gerichtssaal, brennt aber immer darauf, zu erfahren, was passiert ist.
Als Antwort auf meine Frage nach dem Wein ruft mir Anna jetzt in Erinnerung, dass meine Mutter, als wir uns zum Essen hinsetzten, darauf bestand, dass mein Dad die gute Flasche Wein aufmachte, die Anna mitgebracht hatte, und er jedem von uns daraus einschenkte. Aber wir wissen beide nicht mehr genau, ob meine Mom dieses Glas anrührte oder das Glas, das mein Dad ihr vorher in die Küche gebracht hatte.
»Was ist mit den Vorspeisen? Hat sie davon welche gegessen?«
»Gott, Nat. Ich weiß es nicht. Ich meine, wahrscheinlich von dem Gemüse und dem Dip. Ich entsinne mich, dass dein Vater ihr das ganze Tablett angeboten hat, aber irgendwie hab ich gedacht, ihr beide hättet es dann mit raus zum Grill genommen. Wer weiß?« Sie kräuselt unsicher die Nase. »Wie fühlst du dich jetzt, nach allem?«
Ich wedele sinnlos mit den Händen. Ich bin immer erstaunt, wie ausgelaugt und apathisch ich mich fühle, wenn ich mich von meinem Dad verabschiedet habe. Das Zusammensein mit ihm kostet mich unglaublich viel Kraft.
»Na ja«, sage ich. »Ich hab mir alles angehört, und ich kann mir nicht einreden, dass die Burschen, Molto und Brand, sich einfach was zusammenspinnen, weil alles, was sie sagen, Hand und Fuß hat. Aber ich glaube es trotzdem nicht«, erkläre ich.
»Solltest du auch nicht.« Anna, schon immer der größte Fan meines Vaters, hat ihn standhaft verteidigt. »Es ist nämlich unmöglich.«
»>Unmöglich<? Ich weiß nicht, es würde jedenfalls nicht gegen die Gesetze der Physik verstoßen.« Annas grüne Augen gleiten zu mir rüber. Die Philosophennummer zieht bei ihr nie.
»Dein Vater hätte so etwas niemals getan.«
Ich denke kurz darüber nach. »Ich weiß, du hast für ihn gearbeitet, aber privat ist mein Dad wirklich total verkrampft.« Anna und ich erleben solche Augenblicke wie jetzt regelmäßig: Ich mache meinen Zweifeln Luft, und sie hilft mir, darüber hinwegzukommen. »Einmal - da muss ich zwölf gewesen sein, weil wir aus Detroit zurückgekommen waren und mein Dad noch Prozessrichter war - sind er und ich irgendwohin gefahren. Er hatte da gerade den Vorsitz in einem spektakulären Prozess. Die Frau eines Geistlichen in einer von diesen Megakirchen hatte ihren Mann ermordet. Wie sich herausstellte, war er schwul gewesen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, und als sie dahinterkam, tötete sie ihn, indem sie ihm seinen du weißt schon abschnitt, während er schlief. Er ist verblutet.«
»Das war ja dann wohl deutlich genug«, sagt Anna und lacht ein bisschen. Frauen finden so etwas immer amüsanter als Männer.
»Oder zu deutlich«, erwidere ich. »Jedenfalls, den Verteidigern blieb kaum eine andere Wahl, als auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren. Sie riefen jede Menge Zeugen auf, die aussagten, dass die Frau ansonsten lieb und nett war und sie ihr so etwas nie zugetraut hätten. Und ich fragte meinen Dad, was er dazu meinte. Das war immer toll, weil ich wusste, dass er solche Fragen bei niemandem sonst beantwortet hätte. Ich fragte ihn also: >Dad, glaubst du, die Frau ist verrückt?<, und er sah mich nur an und sagte: >Nat, man weiß im Leben nie, was passieren kann, wozu Menschen fähig sind.< Und frag mich nicht wieso, aber ich wusste genau, dass er in dem Moment über die Sache sprach, die ihm ein paar Jahre vorher passiert war.«
»Er hat nicht gemeint, dass er ein Mörder ist.«
»Ich weiß nicht, was er gemeint hat. Es war ziemlich eigenartig. Es war, als wollte er mich vor irgendwas warnen.«
Wir halten vor der Nearing Bridge, wo aus drei Spuren zwei werden und der Verkehr jeden Abend zur Stoßzeit ins Stocken gerät. Vor Jahren hatte ich mal einen Freund, der behauptete, die Relativitätstheorie verstanden zu haben, und der sagte, dass jedes Lebewesen unaufhörlich Bilder abwirft. Und wenn wir es je schaffen würden, schneller als das Licht zu sein, könnten wir die Zeit zurücklaufen lassen und jeden Moment in der Vergangenheit betrachten, als würden wir uns einen dreidimensionalen Stummfilm anschauen. Ich frage mich oft, wie viel ich dafür geben würde, nur um mir anschauen zu können, was sich in den sechsunddreißig Stunden, nachdem Anna und ich uns verabschiedet hatten, im Haus meiner Eltern abspielte. Dann und wann versuche ich, es mir vorzustellen, doch das Einzige, was vor meinem geistigen Auge auftaucht, ist seine Gestalt, die auf dem Bett sitzt.
»Sandy hält meinen Dad immer noch für unschuldig«, sage ich jetzt zu Anna.
»Das ist gut. Woher weißt du das?«
»Ich hab ihn gefragt. Wir haben über meine Aussage gesprochen, und ich hab gefragt, was er denkt. Aber was soll man dem Sohn eines Mandanten auch sonst sagen?«
»Man würde es ihm nicht sagen, wenn man es nicht glaubt«, sagt sie. »Man sülzt ein bisschen rum und umgeht die Frage.« Anna ist erst seit gut zwei Jahren praktizierende Anwältin, aber ich betrachte sie als absolute Autorität in diesen Dingen. »Es muss dir doch etwas bedeuten, dass die Menschen, die die Beweislage am besten kennen, an deinen Vater glauben.«
Ich zucke die Achseln. »Sandy denkt dasselbe wie du über die DNS aus dem ersten Prozess.« Ich habe inzwischen erfahren, dass Ray Horgan, der damals Single war, eine Affäre mit der getöteten Frau hatte. Er muss also logischerweise ein Verdächtiger sein, falls mein Dad es nicht getan hat, erst recht, wenn man bedenkt, dass er sich damals gegen meinen Vater wendete und für Molto aussagte. Aber das hätte meinem Dad doch klar gewesen sein müssen. Stattdessen hat er sich mit Ray versöhnt, der sich seitdem zur Wiedergutmachung förmlich für ihn überschlägt.
Aber das alles behalte ich für mich. Es ist nie gut, wenn ich Ray erwähne oder das, was zwischen Anna und ihm war. Hin und wieder kommt mir der Gedanke, dass mein Dad seine Affäre in derselben Zeit hatte. Zusammen mit dem ganzen anderen unausgegorenen Zeug, das mir so durch den Kopf spukt, hat mich diese zeitliche Übereinstimmung tatsächlich schon ein paarmal stutzig gemacht, ob ich nicht falschgelegen habe und Anna in Wahrheit was mit meinem Vater hatte, doch dann komme ich irgendwie wieder zur Besinnung und begreife, dass Anna und ich dann nicht zusammen wären und über diese Brücke oder sonst wohin fahren würden. Stattdessen versuche ich einfach nur zu verstehen, was mit Männern in mittleren Jahren vor sich geht. Anscheinend beginnt bei ihnen das Gehirn genauso zu schwächeln wie der Rücken und die Prostata.
»Danke, dass du das machst«, sage ich zu Anna, als wir vor der Haustür meiner Eltern stehen.
Statt zu antworten, umarmt sie mich kurz. Sie ist schon mehrmals mit mir hier gewesen. Es macht mich völlig fertig, hier zu sein - am Tatort des angeblichen Verbrechens, wo die Wände die Wahrheit wissen. Die Jalousien sind zum Schutz gegen neugierige Kameras heruntergelassen, und sobald wir im Haus sind, riecht die Luft, als wäre vor Stunden hier etwas gebraten worden.
Für Anna und mich ist der Prozess schwer zu ertragen. Eigentlich war in den letzten neun Monaten alles schwer zu ertragen, und manchmal wundere ich mich fast, dass wir noch zusammen sind. Ich versinke regelmäßig in meinem persönlichen Nimmerland und kann oder will manchmal abends einfach nicht reden, und unsere zahllosen Gespräche über meinen Dad und den Prozess führen häufig zum Streit zwischen uns. Sie ist immer schnell bereit, ihn zu verteidigen, was mich manchmal richtig sauer auf sie macht.
Und dann sind da noch die normalen Erschwernisse des Lebens. In ihrer Kanzlei ist immer noch relativ wenig los, aber für die Arbeit, die anfällt, nehmen die Partner sie ständig in Anspruch. Phasenweise kriege ich sie tagelang nicht zu Gesicht und weiß nur deshalb, dass sie überhaupt zu Hause war, weil ich den Abdruck ihres Körpers im Bett sehe oder mich erinnere, irgendwann in der Nacht gegen sie gestoßen zu sein. Aber sie liebt ihre Arbeit und erklärt mir ständig, dass ihr durch mich noch klarer geworden ist, dass sie das tut, was sie tun will. Und man sieht es ihr an. Ich genieße die Augenblicke, wenn ich mich mit ihr treffe und sie früher entdecke als sie mich. Sie schreitet so zielbewusst durch die Straßen der Stadt, so schön und intelligent und selbstsicher.
Ich dagegen hänge irgendwie noch völlig in der Luft. Ich weiß nie, ob ich am nächsten Tag arbeiten werde. Ich springe immer noch als Vertretungslehrer an der Nearing Highschool ein, aber nicht, solange der Prozess läuft. Außerdem konnte ich es mir leisten, eine Reihe von Entscheidungen hinsichtlich meiner Juristenlaufbahn zu verschieben, weil ich jetzt sehr viel reicher bin, als ich je gedacht habe, denn das Geld, das meine Großeltern Bernstein meiner Mom hinterlassen hatten, ist nach ihrem Tod an mich gefallen.
Wir gehen die Treppe hinauf und bleiben vor dem Schlafzimmer meiner Eltern stehen, neben der Tür zu dem kleinen Arbeitszimmer, in dem der Computer meines Dads stand, ehe Tommy Molto ihn beschlagnahmen ließ.
»Das kam heute ziemlich schlecht rüber«, sage ich ihr und deute mit dem Kinn ins Arbeitszimmer. Wie so oft ist das viel zu kryptisch für sie, und ich muss ihr erklären, welche Wirkung die aufgerufenen Webseiten über Phenelzin und die gelöschten E-Mails im Gerichtssaal hatten.
»Ich dachte, Hans und Franz werden aussagen, dass vielleicht gar keine Mails gelöscht worden sind«, sagt sie.
Hans und Franz sind unsere Spitznamen für die beiden Computerexperten, die Stern angeheuert hat, um Dr. Gorvetich, dem Experten der Staatsanwaltschaft, zu widersprechen. Hans und Franz stammen aus Polen, sind Ende zwanzig, der eine groß, der andere klein, und haben beide einen Igelschnitt. Sie sprechen unglaublich schnell, und da sie immer noch einen ziemlich starken Akzent haben, erinnern sie mich manchmal an Zwillinge, die sich als Einzige auf der Welt gegenseitig verstehen können. Sie halten Dr. Gorvetich, ihren ehemaligen Lehrer, für einen diensteifrigen Trottel und haben eine diebische Freude daran, seine Schlussfolgerungen lächerlich zu machen, was offenbar nicht schwer ist. Dennoch, aus ihren beiläufigen Kommentaren entnehme ich, dass Gorvetich wahrscheinlich recht damit hat, dass eine Schredder-Software heruntergeladen wurde, um bestimme Mails zu entfernen.
Anna schüttelt den Kopf während meiner Erklärungen.
»Ich glaube keinem Test, der aus Moltos Büro kommt«, sagt sie. »Weißt du, es steht so gut wie fest, dass er im ersten Prozess Beweise manipuliert hat.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
Anna lacht. »Eines der wenigen denkwürdigen Dinge, die meine Schwiegermutter je zu mir gesagt hat, war: >Wundere dich nicht, wenn Menschen bleiben, wie sie sind.<«
Im Schlafzimmer müssen wir lachen, als wir die Krawatten im Schrank meines Dads durchsehen. Er hat bestimmt fünfzig Stück, und alle sehen gleich aus, rot oder blau, dezent gemustert oder gestreift. Die violette Krawatte, um die er gebeten hat, sticht hervor wie Rudolph, das Rentier mit der roten Nase. Ich hole etwas Seidenpapier und eine Tüte von unten, und wir packen die Krawatten auf dem Bett meiner Eltern ein.
»Soll ich dir mal was richtig Abartiges erzählen?«, frage ich Anna. Eines weiß ich über meine Freundin: Auf so eine Frage würde sie niemals mit Nein antworten. »Als Paloma und ich in der Highschool waren, haben wir es manchmal heimlich bei ihr zu Hause getrieben, wenn ihre Eltern arbeiten waren, und manchmal im Bett von ihren Alten, was sie aus irgendeinem Grund total angeturnt hat.«
Anna lächelt schwach und schüttelt ein wenig den Kopf. Anscheinend findet sie das gar nicht so abartig.
»Also heute krieg ich schon zu viel, wenn ich bloß dran denke«, sage ich, »aber, na ja, mit siebzehn will man es praktisch überall machen. Jedenfalls, irgendwann waren wir dann auch mal hier, und sie wollte es auf einmal hier in diesem Bett tun. Das war zu viel. Ich meine, ich konnte nicht. Da ging gar nichts.«
»Soll das eine Herausforderung sein?«, fragt Anna, tritt nah an mich ran und geht gleich in die Vollen. Ich spüre sofort, wie sich mein kleiner Freund regt, aber ich weiche zurück.
»Du bist total verrückt«, sage ich.
Sie lacht, kommt aber hinter mir her. »Soll ich vielleicht sagen: Trau dich doch?«
Mit dem Tod meiner Mom endete jene selige Phase, in der wir andauernd vögelten, und es begann die selige Phase, in der wir trotz allem fast andauernd vögelten. Sex bietet eine Nähe und ein Vergessen, das uns Kraft gibt. Im Januar bekamen wir beide die Grippe und blieben drei Tage zu Hause. Wir fühlten uns ziemlich elend, hatten Fieber und viele andere unangenehme Symptome und schliefen die meiste Zeit. Aber trotzdem fielen wir alle paar Stunden übereinander her, die überhitzten Körper klebten aneinander wie zusammengeschweißt, und die Intensität und die Lust schienen Teil unseres fiebrigen Deliriums zu sein. Dieser Trancezustand ist irgendwie nie völlig abgeklungen.
Was auch immer Annas exzentrische Seite wünscht, Sex in dem Bett, in dem meine Mutter starb, ist dann doch mehr, als ich verkraften kann, aber ich ziehe sie über den Flur in das Zimmer, in dem ich fünfundzwanzig Jahre geschlafen habe. Dieses Bett ist für mich vertrautes Terrain, was Sex angeht. Hier hatte ich als Dreizehnjähriger meinen ersten Orgasmus, mit mir allein, und hier schlief ich zum ersten Mal mit einem Mädchen - genauer gesagt mit Mike Pepis älterer Schwester, die schon fast zwanzig war -, und hier lieben wir uns. Als ich gerade an Runde zwei denke, setzt Anna sich abrupt auf.
»Gott, hab ich einen Hunger«, sagt sie. »Komm, lass uns gehen.« Wir einigen uns auf Sushi. Es gibt da ein ganz ordentliches Restaurant, das auf dem Rückweg in die Stadt liegt.
Wir holen die Krawatten und sind im Handumdrehen zur Tür hinaus. Zurück im Auto, spüre ich, wie sich die ganze Last der Situation wieder auf mich senkt. Das ist das Problem mit Sex. Ganz gleich wie lang er dauert, es gibt immer ein Danach.
»Ich wünschte, du könntest dabei sein, wenn ich aussage«, erkläre ich. »Stern könnte die Gegenseite doch um Erlaubnis fragen, oder?«
Sie denkt nur eine Sekunde darüber nach, ehe sie den Kopf schüttelt.
»Das ist keine gute Idee. Wenn ich da bin und du irgendwann über den Abend reden musst, springt bestimmt einer von der Anklagevertretung auf und fragt mich, woran ich mich erinnere.«
Von Anfang an hatte Anna die größte Angst davor, irgendetwas zu sagen, was die Lage meines Vaters verschlechtern würde, und im Grunde genommen könnte das durch jede Äußerung passieren. Schon die Kleinigkeit, die ihr heute Abend eingefallen ist, dass mein Dad am Tisch den Wein eingeschenkt hat oder dass er meiner Mom das Tablett mit tyraminhaltigen Vorspeisen anbot, würden Brand und Molto mit Tusch und Fanfarenstößen quittieren. Alle - Stern, Marta, mein Vater, Anna und ich - sind sich einig, dass es für uns besser ist, wenn sie eine von vielen Zeugen bleibt, die beide Parteien nur ungern aufrufen möchten, weil keiner weiß, was von ihnen zu erwarten ist.
»Sandy hat mir heute Abend anvertraut, dass er meinen Vater eigentlich nicht aussagen lassen wollte.«
»Tatsächlich?«
»Er hatte Angst, Molto würde bei der Befragung die Gelegenheit nutzen, den Geschworenen ein umfassendes Bild zu zeichnen. Und er fürchtete, Yee könnte eventuell seine Entscheidung im Hinblick auf die Affäre ändern und Molto erlauben, darauf einzugehen. Was Molto auch versucht hat.«
»Ist nicht dein Ernst!«
»Ich hab es nicht mal fertiggebracht, im Saal zu bleiben und mir anzuhören, wie sie drüber reden. Ehrlich, ich hab immer noch so ein Scheißgefühl á la >Dieser alte Sack - mein Dad?< Jedes Mal wenn die Sache zur Sprache kommt.«
Sie lässt sich Zeit, wägt ihre Antwort sorgfältig ab. Wir haben eine unterschiedliche Haltung zu diesem Thema, weil er nicht ihr Dad ist, ganz einfach.
»Letzten Endes ist es deine Sache«, sagt sie, »und ich sag es dir ja auch nicht zum ersten Mal, aber irgendwann wirst du darüber wegkommen müssen.«
Diese Diskussion ist mittlerweile alt. Und endet immer mit meinem sturen Beharren darauf, dass der Tod meiner Mutter irgendwie mit der Affäre zusammenhängt.
»Es war einfach so verdammt blöd«, sage ich. »Und so verdammt egoistisch. Findest du nicht?«
»Doch, das war es«, sagt sie. »Aber soll ich dir mal ehrlich sagen, was ich denke? Ich hab doch einen Typen kennengelernt, in den ich mich verkuckt hab.«
»Ein supertoller Typ«, sage ich.
»Absolut«, antwortet sie. »Aber dieser supertolle Typ war Referendar am Obersten Gericht. Für das zufällig auch noch sein Vater kandidierte. Und dieser supertolle Typ kam doch tatsächlich regelmäßig mit Marihuana in der Tasche ins Oberste Gericht spaziert. Obwohl er wusste, dass die Sache Schlagzeilen gemacht hätte, falls er erwischt würde. Obwohl er wusste, dass er sofort seinen Job verloren hätte. Und vorübergehend auch seine juristische Zulassung. Und sein Vater vielleicht die Wahl verliert.«
»Okay, aber in der Zeit ging es mir richtig schlecht.«
»Deinem Vater vermutlich auch. Und auch der Frau, möglicherweise. Und ich verstehe, dass dein Dad dich enttäuscht hat. Aber wir machen alle manchmal seltsame, unglaubliche Sachen und verletzen die Menschen, von denen wir glauben, dass wir sie lieben. Wenn einer ständig so einen Scheiß baut, dann hast du alles Recht der Welt, ihn abzulehnen, aber wir haben alle unsere schwachen Momente. Sei froh, dass ich dir nicht alle meine idiotischen Sexgeschichten beichte.«
»Und ob ich das bin.« Ein paar von Annas Geschichten haben mir gereicht. Sie hat viel zu lange bei den falschen Leuten nach Liebe gesucht. »Trotzdem gibt es einen Unterschied zwischen dem verkorksten Mist, den du in jungen Jahren baust, und dem verkorksten Mist, den du baust, wenn du eigentlich klüger sein solltest.«
»Da machst du es dir aber ziemlich einfach, findest du nicht?«
»Ich weiß nicht, was ich finden soll«, antworte ich. Es ist genug. Die Lichter, die auf der Nearing Bridge leuchten, verschwimmen. Ich werde weinen. Jeden Tag gelange ich an diesen Punkt, wo mir alles zu viel wird und ich so wahnsinnig gern einfach auf Vorlauf drücken würde, um mich mit einer sicheren Zukunft beschäftigen zu können. »Ich hasse das. Ich hasse diese ganze beschissene Situation.«
»Ich weiß, Baby.«
»Ich hasse das alles.«
»Ich weiß.«
»Lass uns nach Hause fahren«, sage ich dann. »Ich will einfach nach Hause.«